Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit?
Funktion und Relevanz der Verfassungsgerichte in der Netzwerkgesellschaft
Das Obwaldner Institut für Justizforschung (IJF) organisierte am 13. und 14. Oktober 2023 an der Universität Luzern unter dem Titel «Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit?» einen zweitägigen Workshop zur Funktion, Rolle und Relevanz sowie zum Stellenwert der Verfassungsgerichte in der Netzwerkgesellschaft.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist (rechts)politisch eine brisante und hochaktuelle Thematik. So scheiterte in der Schweiz unlängst ein erneuter politischer Anlauf, die Verfassungsgerichtsbarkeit in Form einer konkreten Normenkontrolle für Bundesgesetze zu installieren. Doch auch im internationalen Diskurs rund um die Verfassungsgerichtsbarkeit zeigen sich die Spannungsfelder einer «Politisierung der Justiz» versus einer «Justizialisierung von Politik». Nicht ohne Grund sind die Urteile der Verfassungsgerichte immer stärker einer öffentlichen und insbesondere medialen Wahrnehmung und Diskussion ausgesetzt. Steckt die Verfassungsgerichtsbarkeit folglich in einer Krise? Hat sich die politische Überreizung in der Gesellschaft auf die Verfassungsgerichte verlagert und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Rechts- bzw. Verfassungsstaat?
Was heisst es, Gesetz und andere Normen aufgrund der Verfassung zu überprüfen? Trägt es zur Stabilisierung und Kohärenz des Rechtssystems, zur Verfassungsmäßigkeit der ganzen Rechtsordnung, zur Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte bei? Oder öffnet es den Weg hin zu einer richterlichen Bestimmung der Verfassung und somit zur Abschwächung der Volkssouveränität? Inwiefern bedeutet die Verfassungsgerichtsbarkeit eine Hierarchisierung der Rechtswissensproduktion? Kann ein so hierarchisches und richterlich vorbestimmtes Modell den Erwartungen und Gegebenheiten einer Netzwerkgesellschaft gerecht werden?
Looking upward at the now famous monster building (Yick Cheong building), a typical example of dense apartments construction, in Quarry Bay, Hong Kong, Benh LIEU SONG (CC-by-SA 4.0), 13 June 2019
Die Verfassungsgerichtsbarkeit setzt den Vorrang der Verfassung voraus, die als Massstab für die anderen Normen dienen kann. Somit lässt sich eine Normenhierarchie – im Sinne von einer Verfassungsmässigkeit aller Normen – gewähren. Wie aber sowohl Julia Hänni als auch Sabine Müller-Mall in ihren Vorträgen betonten, seien die Normen mehrdeutig: Die «Rechtsanwendung» sei demnach sehr wohl auch eine (zumindest teilweise) Rechterzeugung. In diesem Sinne meinten Péter Techet und Michel Troper in ihren Vorträgen – einerseits mit Bezug auf Hans Kelsens Theorien, andererseits mit rechtshistorischen Beispielen aus Frankreich und Österreich –, dass die «Rechtsanwendung» auf der letzten Instanz frei neues Recht erzeugen könne. Bezüglich der Verfassungsgerichtsbarkeit würde es jedoch zur Folge haben, dass die Bedeutung der Verfassung und der Gesetze verfassungsrichterlich festgestellt würde.
Ausgehend von der Beobachtung, dass jede Entscheidung eine Krise in sich darstellt, widmete sich Andreas Kley der Frage, wie der Gesetzgeber seine Macht «self-restraint» ausübt, um die Vorgaben der Verfassung einzuhalten. Er konstatierte eine deutliche «Politisierung» des Rechts sowie eine Krise der Rechtssetzung. Durch einen vermeintlichen «Dauerkrisenzustand» und im Zuge technokratischer Verrechtlichungspraxen habe sich auf der Verwaltungsebene ein selbstexekutierendes «Instantanrecht» etabliert, das nicht mehr der Regelhaftigkeit generell-abstrakter Normativität folge.
Karl-Heinz Ladeur hat die Krise durch einen Vergleich der Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte (USA, Deutschland, Israel, Polen und Ungarn sowie Lateinamerika) bestätigt. Entgegen der landläufigen Meinung werde die Politik nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit unterworfen und könne dieser auch gar nicht unterworfen sein. Normativität und soziale Regelhaftigkeit seien nicht trennscharf. Ein verfassungsgerichtliches Urteil sei nicht bloss Anordnung, sondern von Gelingensbedingungen und damit auch von der Akzeptanz des politischen Systems abhängig. Infolge der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung in einer fragmentierten Netzwerkgesellschaft könne die Verfassungsgerichtsbarkeit die ursprüngliche integrative Rolle nicht mehr gleichermassen wahrnehmen.
Oliver Lepsius übersetzte es rechtstheoretisch als Dynamik der Rechtskonkretisierung, was einerseits auch die demokratische Wechselbarkeit des Rechts gewähre, andererseits aber eine vertikale Normenhierarchie voraussetze. Nesa Zimmermanns Vortrag über die sozial-kritische «réécriture» («rewriting») von rechtskräftigen Rechtsstreitigkeiten zeigte hingegen die Möglichkeit einer pluralen und horizontalen Herangehensweise an das Recht als eine von der Zivilgesellschaft ausgehende Korrektur auf.
Verschiedentlich wurde auch die Frage der Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgeworfen. Eine wiederkehrende Frage war in diesem Zusammenhang, welche Rolle die Gesellschaft im Allgemeinen und die rechtswissenschaftliche Lehre im Besonderen spielen können und sollen. Angesprochen wurde die Frage, ob die Verfassungsgesellschaft gewissermassen als Gegengewalt zu den Verfassungsgerichten verstanden werden soll – und inwiefern dies ebenfalls zu Problemen führen und eine Krisensituation weiter verschärfen kann, zum Beispiel, wenn mit direktdemokratischen Instrumenten wie der Volksinitiative auf unliebsame Gerichtsentscheide reagiert wird.
Zur Sprache kam auch die Frage, welchen Beitrag die Lehre leisten soll. Gemäss Julia Hänni tendieren die Gerichte aufgrund ihrer Rolle und Funktionsweise eher zur, manchmal übertriebenen, Vorsichtigkeit: dementsprechend fällt es der Lehre zu, mutigere oder vielleicht auch kontroversere Vorschläge zu machen, die ihrerseits künftige Urteile inspirieren können.
Manche solche Vorschläge konnten dem Vortrag von Daniela Thurnherr entnommen werden, die sich mit der Rolle der Gerichte im Klimaschutz befasst hat, eine Frage, die in den nächsten Monaten – mit den verschiedenen ausstehenden Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, darunter dasjenige im Fall Klimaseniorinnen gegen die Schweiz – an Aktualität gewinnen wird. Diese Art strategischer Prozessführung habe in letzter Zeit zugenommen und weise auf eine aktive Rolle der Zivilgesellschaft beim Klimaschutz hin. Das Bundesgericht habe das Anliegen jedoch in die Sphäre des Politischen verwiesen. Der Fall der Klimaseniorinnen zeige zudem den nicht unproblematischen Umgang des Bundesgerichts mit ausserrechtlichem Expertenwissen im Kontext der «Klimakrise».
Ob die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise stecke, wurde insgesamt mit einem «Jein» beantwortet: Einerseits ist eine demokratische Gesellschaft immer dynamisch, wechsel-, somit auch krisenhaft. Andererseits ist fraglich, ob sich die gesellschaftliche Dynamik und damit verbunden die «Krisen» durch eine «Verrechtlichung» lösen lassen, oder die «Verrechtlichung» (insofern auch die Verfassungsgerichtsbarkeit) selbst dadurch den Krisen teilhaftig wird.
Nesa Zimmermann, Péter Techet, Filippo Contarini und Silvan Schenkel
Anlässlich des Workshops fand am 13. Oktober 2023 ein öffentlicher Abendvortrag von Prof. em. Dr. Dr. h.c. Karl-Heinz Ladeur statt, mit dem Titel: «Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise? - Verfassung und gesellschaftliche Fragmentierung in Deutschland und in den USA». Der Abendvortrag wurde aufgezeichnet und kann online nachgeschaut werden.
Referentinnen und Referenten des Workshops
Prof. Dr. Julia Hänni (Bundesgericht Lausanne): «Verfassungsgerichtsbarkeit: Grundlagen – Eigenheiten – Methodik»
Prof. Dr. Sabine Müller-Mall (Technische Universität Dresden): «Verfassende Urteile als juridische Urteile»
Prof. Dr. Andreas Kley (Universität Zürich): «Verrechtlichung der Politik gegen Verpolitisierung des Rechts»
Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Universität Münster): «Pluralisierung des Rechts durch Vertikalisierung der Rechtsordnung»
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Karl-Heinz Ladeur (Universität Hamburg): Öffentlicher Abendvortrag: «Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise? – Verfassung und gesellschaftliche Fragmentierung in Deutschland und in den USA»
Prof. Dr. Daniela Thurnherr (Universität Basel): «Klimaschutz durch Gerichte: Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Judikatur des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts»
Ass-Prof. Dr. Nesa Zimmermann (Université de Neuchâtel): «Une juridiction constitutionelle par la société civile? La réécriture come forme de mobilisation collective»
Dr. Dr. Péter Techet (Universität Zürich): «Einführung und Krisen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Zentraleuropa (Österreich, Tschechoslowakei, Liechtenstein)»
Professeur émérite Michel Troper (Université Paris-Nanterre): «Les contraintes horizontales»